„Wenn ich den frenetischen Jubel der „Sieger“ bedenke, die Straßenaufzüge, die glänzenden, militärisch aufgezogenen Versammlungen und Aufmärsche, dann fühle ich, dass ein Wiedersehen ausgeschlossen ist“.
1933 übernahmen die Nationalsozialisten die Macht in Deutschland. Sofort begann die Verfolgung von Sozialdemokraten und Kommunisten, von Juden und anderen Menschen, die von den Nazis zu Feinden erklärt wurden. Vielen blieb von daher nur die Flucht. Eines der Hauptzielländer war die Tschechoslowakei. Das Land war die letzte Demokratie in Ostmitteleuropa und es gab eine zahlenmäßig starke deutsche Minderheit, in der es wiederum auch demokratische Parteien gab. Zu Ostern 1933 veröffentlichten die Zeitungen der sudetendeutschen Sozialdemokratie die unten stehende Schilderung. Der Text warb für die Unterstützung der nun in der Tschechoslowakei eintreffenden Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten.
Der Blick auf 1933 hilft uns, Flucht und Asyl in unserer Gegenwart besser zu verstehen.
Freiheit 15.4.1933 - Osternbeilage
Die Flucht
Eisiger Wind bläst und trägt stoßweise, gedämpft oder grell, schreiende, zornige Marschmusik herüber. Rasendes, tobendes Schreien entfesselter Menschen vermischt sich mit ihr; ich ziehe fröstelnd den Mantel enger und suche die Volksküche auf, in der ich mein karges Menu ohne jeden Sinnesreiz zu mir nehme. Ein ängstliches, leeres Gefühl hat mich beschlichen. Bangigkeit und Ermattung treiben mir den Schweiß auf die Stirn. Ich stehe ohne Fühlung mit Gleichgesinnten in dieser großen aufgewühlten Stadt: ein fürchterliches Geschehnis hat alles zerstört und verwischt, was dem Menschenrecht, der Menschenliebe dienstbar war. Ruinen gleich stehen die Stätten, in denen hilfsbereite, liebende Menschen walteten, an den leeren zerschlagenen Fenstern irrt es vorbei wie Schatten aus einer anderen Welt.
Nationale Großsprecher haben mit vielversprechenden, zündenden Worten ein verarmtes, geschlagenes, ausgehungertes Volk begeistert und aus der Fassung gebracht, das sich blutdürstend auf seine vermeintlichen Peiniger stürzt, wüstet, mordet und tobt. Meine Gedanken kommen und gehen, sinnlose Pläne durchziehen das Hirn, ich verwerfe sie wieder, um gleich darauf Neues, Undurchführbares wieder fallen zu lassen.
Gleichgültig trolle ich mich durch überfüllte, lärmende Vorstadtstraßen, aufgeregte Menschen eilen mir raschen Schritten an mir vorbei. Eine endlose Kette von Automobilen jagt vorüber mit Trägern einer sonderbaren Uniform, junge Burschen, auf deren Gesicht der Ausdruck einer schlecht geheuchelten Begeisterung liegt, deren unerfahrenen Händen man gefährliche Waffen anvertraute. Es ist mir unmöglich, lange in dieses irre Gewühl zu blicken. Ich suche mein einfaches Haim auf, das ich bezog, nachdem ich meine kleine Familie weit weg zu den Ihren in Sicherheit brachte.
Meine Wirtin kommt mir eilig entgegen, mit runden Augen und einem Gesicht, aus dem Hohn und Schadenfreude zu sprechen scheinen.
„Zwei Herren sind dagewesen und haben Ihre Sachen durchsucht! In einer Stunde wollen Sie wieder da sein.“
Ich blicke die kleine dicke Frau unsicher an und kann nicht vermeiden, dass ich Halt am Türpfosten suche, denke blitzschnell an einige ähnliche Vorfälle, die Jahre zurückliegen und wo ich längere Zeit in Untersuchungshaft blieb, als der einstige Umstürzler, Rebell und Soldatenrat, als ich längst in einem geachteten Beruf stand, politisch und gewerkschaftlich organisiert war.
Unbefangen und doch mit hochklopfenden Pulsen gebe ich der schwammigen Hebe eine gleichmütige Antwort, suche die wenigen Requisiten zusammen, stecke sie in die Taschen und vergewissere mich, dass der Auslandspass in der Unterhose steckt, schleiche mich auf Zehenspitzen fort, lautlos die Türe schließend.
Blitzschnell fasse ich einen Entschluss, stürme zu den beiden Freunden, die mir mein Gepäck aufbewahrten, nehme flüchtig Abschied von ihren Frauen und fahre im Zickzack nach dem entferntesten Vorstadtbahnhof. Dort orientiere ich mich nach dem nächstfälligen Zuge. Ich überzähle zitternd die knappe Reisekasse und stelle fest, es reicht bis weit über die Grenze.
Ein panischer Schrecken hatte mich bei der lakonischen Ankündigung der Wirtsfrau erfasst, noch jetzt zittern mir die Knie und ich wische unaufhörlich die Stirn.
Eine lange halbe Stunde vergeht bis zur Abfahrt des Zuges nach einem weit entfernten Verkehrsknotenpunkt. In den Abteilen aufgeregte, freudige oder teilnahmslose Reisende. Die Gespräche der Umstürzler verflechten sich zu einem sinnlosen Wortschwall. Ich blicke in die sonnüberglänzte Vorfrühlingsherrlichkeit der Natur; ferne Höhen und Wälder grüßen herüber, die zu Wanderungen einladen, fernab von Menschen, die eine unbegreifliche Macht in ihren Bann zwang. Selbst in den kleinsten Orten, die vorüberziehen, Gruppen heftig gestikulierender Arbeitsloser. Dazwischen taucht schemenhaft jene phantastische Uniform auf, überall die neuen Fahnen und das Zeichen der „siegreichen Erhebung“, von dem selbst Kirchtürme nicht verschont blieben.
Ich lächle mit zuckendem Munde über die unverständliche Anrede eines Eiferers, dem ich unmöglich Rede und Antwort stehen kann und will und blättere ohne Andacht in einer unbedenklichen Lektüre.
Am vorläufigen Ankunftsorte suche ich mich schnell nach der Weiterfahrt durch und löse die Karte bis zur Grenze hinzu. Allmählich dunkelt es, ich nehme einen bescheidenen Imbiss zu mir und fange an einer Unterwegsstation ein harmloses Gespräch mit dem Zugschaffner an. Das Schicksal kommt mir unerwartet in ihm entgegen, ein Heuchler ist der kleine bescheidene Beamte keinesfalls. Er schildert die Grenzverhältnisse und scheint meine Gedankengänge erraten zu wollen. Ich erwidere vorsichtig und doppelsinnig. Die Grenze ist doppelt abgesperrt, man habe bereits eine Anzahl Flüchtlinge verhaftet, einige auf der Flucht erschossen. Angeblich gefährliches Propagandamaterial sei beschlagnahmt worden.
Ich denke unwillkürlich an meine Gesinnungsgenossen. Welches Schicksal mag ihnen bevorstehen? Werden sie in Freiheit, geflüchtet oder hinter Schloss und Riegel – auf lange Zeit – eingesperrt sein? Der Gedanke an die große Stadt kommt mir wieder an die Gemisshandelten, Geschlagenen, Getöteten, an die fürchterlichen Schreie der Vergewaltigten im Polizeigefängnisse. Werde ich die mir liebgewordenen Freunde, die eine Weltanschauung vereinte, jemals wiedersehen?
Wenn ich den frenetischen Jubel der „Sieger“ bedenke, die Straßenaufzüge, die glänzenden, militärisch aufgezogenen Versammlungen und Aufmärsche, dann fühle ich, dass ein Wiedersehen ausgeschlossen ist.
Werde ich die mir liebgewordenen Freunde jemals wiedersehen?
„Wenn ich den frenetischen Jubel der „Sieger“ bedenke, die Straßenaufzüge, die glänzenden, militärisch aufgezogenen Versammlungen und Aufmärsche, dann fühle ich, dass ein Wiedersehen ausgeschlossen ist“.